„Take Away“ der Auftaktveranstaltung
„Koloniales Erbe in Thüringen“
Am 2. Mai veranstaltete die Koordinationsstelle ihre Auftaktveranstaltung „zur Aktualität des kolonialen Erbes in Thüringen“. Unser Ziel war es, mit wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und im Kulturbereich aktiven Akteur:innen ins Gespräch darüber zu kommen, was das koloniale Erbe Thüringens ausmacht, welche Herausforderungen in seiner Thematisierung liegen und welche Perspektiven für dessen Aufarbeitung entworfen werden können. Zugleich war der Abend auch Auftakt zur Auseinandersetzung darüber, wie Universitäten zur Aufarbeitung des Kolonialismus beitragen, Erkenntnisse von Forschungsprojekten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und dabei selbstreflexiv mit dem Fortwirken rassistischer Strukturen bis in die Gegenwart umgehen können.
Welche Herausforderungen insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe in Thüringen liegen, verdeutlichte Peggy Piesche, Kulturwissenschaftlerin und Referentin der Bundeszentrale für politische Bildung, in ihrem Vortrag:
„Dekolonisierung vom Rande des Zentrums“
Demnach sei es der kolonialpolitischen Peripherie mehr noch als den Metropolen gelungen, die Ursprünge der gegenwärtigen rassistischen Strukturen in der kolonialen Vergangenheit unkenntlich zu machen. Wie kann folglich eine mögliche dekoloniale Praxis „vom Rande des Zentrums“ aussehen und welche Denkanstöße nehmen wir aus dem Abend für unsere Arbeit mit?
Neben der Aufgabe einen gesellschaftlichen Dialog über das koloniale Erbe anzustoßen, so Piesche, müsse sich die Arbeit der Koordinationsstelle vor allem auch darauf konzentrieren, Wissenslücken und Leerstellen zu schließen. Daher unterstreicht sie auch die Bedeutung der historischen Aufarbeitung. Denn nur, wenn die „Fragen der Materialität“ beantwortet werden, können auch die Kontinuitäten und somit die gegenwärtigen „Strukturen der Kolonialität“ in den Fokus gelangen. Eine wichtige Erinnerung für uns ist hierbei, dass die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe und der gegenwärtigen Kolonialität nicht nur in den „eigenen Räumen“ stattfinden kann. Konkret bedeutet dies, kritisch zu hinterfragen, welches Wissen entworfen, verworfen, aber auch angeeignet wird. Insbesondere für die historische Forschung stellt sich dabei die Frage, welche Quellen anerkannt werden und wer in diesen zu Wort kommt.
Ein Perspektivwechsel, den Piesche als Ansatz einer Dekolonialität versteht, setzt nicht nur voraus, dominantes Wissen zu hinterfragen und marginalisierte Wissensbestände sichtbar zu machen. Vielmehr bedeutet er auch, rassistische Verhaltensweisen zu erkennen und zu verlernen, da diese weiterhin für den strukturellen Ausschluss Schwarzer Menschen und People of Color (PoC) sorgen.
„Aus diesem Grund müssen wir uns auch immer die Frage stellen, wer nicht mit am Tisch sitzt und warum.“
Peggy Piesche am 2. Mai 2022
Peggy Piesche schlägt zur Adressierung dieser Problemlagen einen Dreischritt vor:
De-Linking
Re-Linking und
Re-Centering
De-Linking meint zuerst bestehendes Wissen und Verhalten zu hinterfragen. Re-Linking zielt auf den Anstoß zum Perspektivwechsel ab, um das Verhältnis zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ neu zu denken. Re-Centering bedeutet schließlich die Pluralität von Wissensbeständen sichtbar zu machen, sich auf die Wissensproduktion im Globalen Süden zu fokussieren und Rassismus auch als Strukturproblem in weißen Räumen zu adressieren.
„Wo liegt die Wirkmächtigkeit der Banalisierung von täglichem Rassismus in Thüringen? Diese Strukturen sind eingeschrieben in unseren Alltag, sie haben ihre Wurzeln in kolonialrassistischem Wissen erfolgreich verwischt und ziehen ihre Legitimierungsargumente aus eben dieser Kappung heraus […]. So lässt sich das koloniale Erbe gern als Tradition frei von Geschichte und rassismuskritischer Verantwortung darstellen und behaupten, doch die Wurzeln sind allgegenwärtig, werden zum Teil in Archiven und Asservaten gehütet und konserviert.“
Peggy Piesche am 2. Mai 2022
Peggy Piesche fordert uns daher zu einem behutsamen Vorgehen auf: nicht nur, weil es um einen sensiblen Umgang mit den historischen und gegenwärtigen Praktiken der Entnennung, Überschreibung und Aneignung geht, sondern auch, weil wir alle von den Auswirkungen kolonialer und rassistischer Gewalt betroffen sind. Schließlich geht es aber auch darum – so Piesches Aufruf zum Ende der Podiumsdiskussion – sich der Widerstandspraktiken der Marginalisierten nicht zu bemächtigen, sondern diasporisches Wissen und Ressourcen denjenigen zur Verfügung zu stellen, die keinen Zugriff darauf haben.
Podiumsdiskussion
Im Anschluss diskutierten auf dem Podium: Peggy Piesche, Iris Rajanayagam (Referentin im Fachbereich Diversität, Intersektionalität und Dekolonialität (D.I.D.) der Bundeszentrale für politische Bildung in Gera), Dr. Urs Lindner (Universität Erfurt und Decolonize Erfurt), Prof. Dr. Anja Laukötter (Universität Jena) und Dr. Thomas T. Müller (Präsident des Museumsverbands Thüringen e.V.). Moderiert wurde das Gespräch von Prof. Dr. Omar Kamil (Universität Erfurt).
Stimmen aus dem Podium
„Wir müssen darüber nachdenken, warum das Thema ‚koloniales Erbe‘ so lange ignoriert wurde und warum es schlagartig so brisant geworden ist. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesen beiden Extremen? Um das zu verstehen, müssen wir unser westliches Selbstverständnis dekolonisieren.“
Prof. Dr. Anja Laukötter (Professorin für Kulturgeschichte, mit Schwerpunkt Museum/Museumsstudien, Universität Jena)
„Wir dürfen nicht die Auseinandersetzung scheuen, vielmehr müssen wir Formate finden, um eine öffentliche Debatte zu führen.“
Dr. Urs Lindner (Fellow am Max-Weber-Kolleg Erfurt und Mitglied von Decolonize Erfurt)
„Nach ersten Untersuchungen gehen wir davon aus, dass sich in den Beständen von bis zu 50% der Thüringer Museen Objekte mit kolonialem Kontext befinden. Von der Kooperation mit den Thüringer Universitäten und deren Koordinationsstelle erhoffe ich mir vor allem eine breit angelegte Grundlagenforschung zu Hintergründen, Akteuren und Verläufen kolonialer Erwerbungstätigkeit in Thüringen.“
Dr. Thomas T. Müller (Direktor der Mühlhauser Museen und ehrenamtlicher Präsident des Museumsverbands Thüringen e.V.)
„Dekolonialität ermöglicht in Bezug auf die politische Bildungsarbeit Prozesse der Dekolonisierung von Wissen und Erinnerung. Durch die Anwendung dekolonialer Ansätze, können hieran anknüpfend, Methoden und Formate entwickelt werden, die wiederrum den Abbau von Strukturen der Ungleichheit und Mechanismen des Ausschlusses fördern. Einen Perspektiv- und Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit Wissen und Wissensproduktion zu befördern, ist hierbei von immanenter Bedeutung.“
Iris Rajanayagam (Referentin für Diversität, Intersektionalität und Dekolonialität bei der Bundeszentrale für politische Bildung in Gera)